Florian Schiel
Ich loesche gerade die ganze ueberfluessige User-Mail auf dem schnellen Server
B, damit ich mehr Platz fuer meine DooM-Szenario-Dateien bekomme, als
ploetzlich jemand meine Tuer aufreisst. Niemand wuerde es wagen, bei
hochgefahrenen Schilden meine Tuer aufzureissen; es kann also nur der Chef
sein.
"Ah... aeh... Leisch... hrrrm... gut... aeh... dass Sie da sind! Ich moechte
Sie mit Frau... aehm... Frau... na!... Frau Diplompsychologin Dr. Duerf
bekanntmachen."
Der Chef zieht den Bauch ein und laesst eine abgehungerte, mindestens ein
Meter fuenfundachtzig grosse, kuenstlich angegraute Bruenette vorbei in mein
Buero. Auf ihrer Bluse schillert das ganze Farbspektrum wie in einem
billigen Bildschirmschoner, und - trotz ihrer an sich schon beachtlichen
Groesse - hat sie an den Schuhen Stilettos, fuer die jeder Mann einen
Waffenschein vorweisen muesste. Auf dem kuenstlich gebraeunten und sorgfaeltig
gespachtelten Gesicht sitzt das professionelle 100-Watt-Osram-Laecheln, mit
dem Zahnaerzte uns immer versichern, es werde ueberhaupt gar nicht weh tun.
Frau Duerf setzt zum Sprechen an, aber der Chef hat schon wieder das Wort
ergriffen:
"Aehm... ja... es handelt sich... hrrrm... oder vielmehr... aeh... Sie kennen
ja das neue 'Quality of Service' Programm, das... aeh... QOS ist wohl die
Abkuerzung... das die Firma... hm... die Firma... Wie war der Name doch
gleich? MacDonalds?"
"McKinsey."
"... McKinsey... aeh... das die Firma McKinsey der Universitaet empfohlen
hat... aeh... ja. In diesem... aeh... Programm gibt es auch ein... Dings...
ein... hm..."
Der Chef schaut in eine Hochglanzbroschure, die er in der Hand haelt.
"... ein 'Person-to-Person coaching, das Anreize zur Verbesserung der
kommunikativen Akzeptanz der Angestellten schaffen soll'. Hmm... ja.
Jedenfalls hat der Hochschulrat beschlossen... aeh... zunaechst mal eine...
hm... kleine Pilotstudie... aehm... anfertigen zu lassen. Hrrrm!
Ja, aeh... und Frau... hm... Frau Duerf hier... oder vielmehr: wir dachten
dabei an Sie...aeh... ob Sie... aehm... "
Frau Duerf uebernimmt elegant die freihaengenden Faeden:
"Ich soll mit Ihnen zusammen eine der geplanten Coaching-Sessions
durchfuehren. Und Sie koennen dann in einem anschliessenden Assessment
berichten, ob eine solche Massnahme zur Effizienzsteigerung und Verbesserung
des Arbeitsklimas beitraegt."
Ich nicke langsam und duester.
"So. Aha", sage ich."Ich hoffe, es handelt sich um nicht-invasive Methoden.
Bei der letzten solchen Aktion hat ein Kollege von Ihnen dazu geraten, mir
die rechte Grosshirnhaelfte zu entfernen."
Frau Duerf hat sich gut in der Gewalt. Nur die rechte Augenbraue zuckt ganz
kurz. Dann strahlt sie wieder ihr Zahnarztlaecheln ab. Jetzt allerdings mit
200 Watt.
"Haha!" lacht der Chef halbherzig. "Ha.... ja, aeh... also... hrrrm... wie
gesagt... am besten... und Sie kommen... aeh... schauen dann nochmal... hm
... bei mir vorbei... aeh...", und damit verlaesst er fluchtartig mein Buero.
Frau Duerf und ich, wir gucken uns eine Sekunde lang an. Dann sage ich:
"Und? Wollen wir ueber meine verkorkste Kindheit sprechen? Wir haben leider
keine Couch hier... "
"Es handelt sich nicht um eine Analyse", sagt Frau Duerf in milde tadelndem
Ton."Wir werden uns einfach ganz entspannt unterhalten. Ab und zu werde ich
eine Frage stellen, und Sie koennen Sie beantworten oder auch nicht. Wie Sie
wollen..."
Ich nicke wieder duester.
"Wie waers mit einen kleinen Spaziergang", versucht es Frau Duerf im
herzlichsten Tonfall.
"Ok", sage ich und fuege dann mit vorwurfsvollem Ton hinzu:
"Uebrigens HATTE ich eine schwere Kindheit."
Wir treten hinaus auf die Strasse. Es nieselt, und ein vorbeifahrender
Lastwagen erwischt uns beinahe mit einer Fontaene Dreckswasser.
"Reizend, ganz reizend", sage ich und wickele mich fester in meinen Mantel.
"Warum sagen Sie das so?" erkundigt sich Frau Duerf.
"Weil das Wetter eben beschissen ist. Sagte ich schon, dass ich eine schwere
Kindheit hatte?"
"Was faellt Ihnen denn sonst noch so ein, wenn Sie an das schlechte Wetter
denken?" faehrt sie unbeirrt fort und stoeckelt auf ihren Stilettos eifrig
neben mir her.
"Hundekacke!"
"Wie bitte?"
"Vorsicht, da! Hundekacke! Jetzt sind Sie doch reingestiegen! Sie sollten
besser achten, wo Sie hintreten. Das ist ein gefaehrliches Pflaster, hier um
die Uni..."
Frau Duerf betrachtet umbekuemmert die dicke Wurst auf ihrem Stiletto - und
streift sie elegant am naechsten BILD-Zeitungs-Kasten ab.
Eigentlich doch ganz sympathisch, die Frau...
"Kommen Sie! Wir gehen in die Neue Pinakothek und schauen uns ein paar
Bilder an", sagt sie und haengt sich bei mir ein.
"Koennen wir nicht lieber ins Lenbach gehen?" sage ich und mache vorsichtig
meinen Arm wieder frei.
"Ins Lenbach-Haus, meinen Sie? Warum nicht? Da gibts auch jede Menge
Bilder..."
"Ich meine nicht das Lenbach-HAUS, sondern DAS Lenbach, die abgefahrendste
Hyper-Schicki-Micki-Super-In-Kneipe Muenchens..."
Frau Duerf guckt interessiert.
"Gehen Sie da oefters hin? Trinken Sie regelmaessig?"
"Nie!" schuettele ich den Kopf. "Obwohl ich eine sehr, sehr schwierige
Kindheit...
"Aber warum gehen Sie dann in Kneipen?"
"Weil ich so gerne die ganzen halb- und voll-fertigen Neureichen und
Lokalpolitiker beobachte, wie sie an der der Bar haengen, schlappe
Konversation machen, ihre Lungen mit rauchverpesteter Luft verseuchen und
sich trotzdem jeden Abend zu Tode langweilen... Ist Ihnen eigentlich schon
mal aufgefallen, dass Lokalpolitik auch von 'Lokal' kommen koennte?"
"Was faellt Ihnen denn bei dem Wort 'Politiker' noch ein?" fragt Frau Duerf.
"Hundkacke!" sage ich.
Frau Duerf schaut automatisch nach unten.
"Nein", sage ich, "diesmal wirklich."
Bei der Neuen Pinakothek zahlt Frau Duerf beide Eintrittskarten, was ich
sehr nobel von ihr finde, wenn man bedenkt, dass ihr Stundensatz bestimmt
nicht mehr als 450 Mark betraegt.
Wir schlendern ziellos durch die ausgestorbenen Gaenge. Falls ich wirklich
mal vorhaben sollte, Selbstmord zu begehen, wuerde ich nochmal herkommen, um
mich in die rechte Stimmung zu versetzen.
"Was halten Sie hiervon?" fragt Frau Duerf.
Ich betrachte das Werk ein paar Sekunden lang.
"Braun", sage ich dann.
"Braun? Sonst faellt Ihnen dazu nichts ein?!"
"Doch!" sage ich. "Hundeka..."
"Schon gut!" unterbricht Frau Duerf hastig. "Schauen wir uns was anderes
an..."
Wir gehen in den ersten Stock hinauf. Eigentlich hatte ich gehofft, dass
dort endlich das unvermeidliche Cafe mit angeschlossenem Souvenir-Stand zu
finden sei. Aber statt dessen sind dort nochmal soviel Bilder wie im
Erdgeschoss!
Ich bleibe vor einer Miniatur stehen. Sie zeigt eine abstrakte Version der
Enthauptung von Jonny, dem Taeufer. Frau Duerf ist sofort hinter mir und
linst mir ueber die Schulter.
"Was gefaellt Ihnen an dem Bild?"
"Es erinnert mich an meine Jugend."
"Wieso?"
"Naja, ich finde es ganz apart, wie die Herodias gleichzeitig laecheln und
Jonnys Blut aus der Schuessel schluerfen kann...."
Frau Duerf guckt auf die abstrakte Pinselfuehrung und reist die Augen auf.
"Und das Toechterchen scheint ja auch ganz schoen ausgekocht zu sein fuer ihr
Alter. Schauen Sie mal, wie das Luder den Kopf des armen John am rechten
Ohr hochhaelt, und dabei noch lachen kann..."
"Aber...", protestiert Frau Duerf, "da sind doch nur rote und violette
Striche und Punkte zu sehen!"
Ich zucke mit den Achseln. Soll ich ihr erklaeren, dass man halt das
entsprechende Hintergrundwissen als 'Bastard from Hell' mitbringen muss?
"Und der arme alte Lustmolch, der Herodes Antipas, hat sich das wohl auch
anders vorgestellt. Ganz gruen ist er im Gesicht. Passen Sie auf, ich wette,
er kotzt gleich dieser Lustsklavin in den Ausschnitt..."
"Ich glaube, wir sollten lieber einen Kaffee trinken gehen", sagt Frau
Duerf, auch schon etwas bleich um die Nase.
"Sind Sie eigentlich mit Ihrem Beruf zufrieden?" Frau Duerf hat sich wieder
etwas gefangen.
"Doch, ich denke schon" sage ich duester. "Er ist auf jeden Fall besser als
der letzte. Finden Sie nicht auch, dass der Kaffee ein bisschen nach
durchgegorener Jauche schmeckt?"
Frau Duerf schiebt ihre Tasse zwei Zentimeter von sich weg und fragt
natuerlich:
"Was war denn ihr letzter Job?"
"Engel vierter Klasse auf dem Linienflug New York - London. Habe ich schon
erwaehnt, dass ich eine Zangengeburt war?"
Frau Duerf Schaut laesst sich nicht ablenken:
"Sie meinen, Sie waren Flugbegleiter?"
"So kann man es auch nennen. Um auf meine Zangengeburt zurueckzukommen..."
"Aber wieso ist das ein schlechter Beruf?" will Frau Duerf wissen.
"Ich habe damals noch fuer die falsche Seite gearbeitet", erklaere ich. "Das
war natuerlich todlangweilig. Und dann praktisch keine Aussichten auf eine
Karriere."
Ich beuge mich vertraulich vor:
"Wissen Sie - mal abgesehen von meiner Zangengeburt - wissen Sie wie lange
es dauert, bis man vom Engel vierter Klasse zum Engel dritter Klasse
aufsteigt?"
Frau Duerf schuettelt langsam den Kopf, ohne mich aus den Augen zu lassen.
Ihre Augenbraue zuckt wieder etwas.
"Zwischen 14 und 26 Millionen Jahre. Sehen Sie?"
"Hm... ja... ich denke doch. Hatten Sie eigentlich in letzter Zeit viel zu
tun?"
Ich ueberlege ein paar Minuten angestrengt.
"Also, letzte Woche hatte ich Hundekacke an den Schuhen, und es hat mich
eineinhalb Stunden gekostet, den Mist mit einer Zuckerzange wieder
herauszukratzen!"
"Aeh... ja", laechelt Frau Duerf etwas broeckelig. "Ich glaube wir sollten doch
nochmal auf Ihre Kindheit zu sprechen kommen..."
"Genau", sage ich. "Hatten Sie eine?"
"Wie bitte?"
"Ich sagte: Hatten Sie eine Kindheit?"
"Ja, natuerlich..."
"Sehen Sie! Ich hatte nur eine Zangengeburt!"
"Ich verstehe..."
"Und was fuer eine! Wollen Sie Einzelheiten wissen?"
"Ich glaube..."
"Es war eine Zuckerzange! Koennen Sie sich das vorstellen? Ich habe meinen
Augen nicht getraut. Eine Zuckerzange..."
"Ich denke, wir sollten jetzt lieber wieder zurueckgehen", meint Frau Duerf
wage und zahlt freundlicherweise auch meinen Kaffee gleich mit.
Den Rueckweg legen wir schweigend zurueck und machen beide sorgfaeltige Boegen
um die ganze Hundekacke, die nach der Schneeschmelze aufgetaut ist und
jetzt in der warmen Fruehlingssonne vor sich hindampft.
Zwei Wochen spaeter bekomme ich eine unmissverstaendliche Aufforderung von der Personalstelle, endlich meinen Resturlaub vom letzten Jahr zu nehmen. Wenn ich wolle, koenne ich auch mal in Kur gehen, steht noch darunter.
Copyright Florian Schiel 1998