Florian Schiel
Man wird alt.
Nicht dass man es mir schon ansehen wuerde; ein 'Bastard from Hell' wird erst nach ein paar Tausend Jahren grau. Meine grauen Haarstraehnen haben rein berufliche Gruende: graue Schlaefen wirken vertrauenserweckend auf StudentInnen.
Aber der Job ist so nervenaufreibend, dass es einfach an die Substanz geht!
Zum Beispiel heute morgen. Nach nicht mal 6 Stunden in SadoVixensIII++
fuehle ich schon wieder dieses unangenehme Ziehen auf dem Handruecken und im
rechten Unterarm. Eine Weile feuere ich mit dem Ringfinger weiter, aber
erstens verlangsamt das meine Reaktionszeiten betraechtlich und zweitens
wird das Ziehen davon auch nicht besser.
Als ich das vierte Mal von der gleichen Gruppe unternehmungslustiger
Jung-Zombies gevierteilt, in teeloeffelkleine Fetzen zerrissen und verspeist
worden bin, gebe ich es erstmal auf und krempele meinen rechten Hemdsaermel
hoch.
Auf der Innenseite des Unterarms sind zwei breite dunkelblaue Flecken,
offensichtlich Abdruecke von der Tischkante. Was mich mehr beunruhigt sind
drei lange rote Streifen, die vom Handgelenk bis zum Ellenbogen reichen;
sie sind heiss, extrem schmerzempfindlich und wechseln die Toenung wenn ich
meinen Killerfinger kruemme.
Ich hole eine Flasche Brut aus dem Kuehlschrank und presse das eiskalte,
dunkelgruene Glas auf die roten Streifen. Das tut gut. Ausgerechnet in
diesem Moment kommt Frau Bezelmann mit einer loechrigen Aldi-Plastiktuete
voller Tagespost an meiner offenen Tuere vorbei.
(Die Aldi-Tuete ist so loechrig, dass ich ohne Probleme meinen Namen auf den obersten Umschlag erkennen kann. Frau Bezelmann bedient sich dieses scheinbar ungeeigneten Transportmediums in der nicht unbegruendeten Hoffnung, dass sich der Umfang der Tagespost auf dem langen Weg von der Poststelle bis in den LEERstuhl etwas reduzieren koennte, und sie dann nicht soviel einsortieren braucht.)
Frau Bezelmann erblickt die Schampus-Flasche an meinem Unterarm und bleibt
ruckartig stehen.
"Was machen Sie denn da?!"
"Nichts", sage ich.
Taktischer Fehler: Nichts reizt den weiblichen Intellekt mehr als das
Woertchen 'Nichts'.
Frau Bezelmann stellt die Aldi-Tuete im Gang ab
(vielleicht kommt ja irgendein Idiot und klaut sie?) und betritt
energischen Schrittes und mit drohend herabgezogenen Mundwinkeln mein
Heiligstes.
"Hat man vielleicht ein Wehwehchen an den Unterarmsehnchen?" floetet sie mit
luesterner Stimme.
Zu spaet faellt mir siedendheiss ein, dass der Chef Frau Bezelmann im letzten
Monat zur 'Gesundheitsbeauftragten' des LEERstuhls ernannt hat. Und noch
dazu auf meine Empfehlung hin, weil er zunaechst mich fuer den Posten
vorgesehen hatte. Damit ist sie nunmehr in fuenffacher Weise 'beauftragt':
Gesundheitsbeauftragte, Auslaenderbeauftragte, Frauenbeauftragte
(natuerlich!), Drogenbeauftragte und Beauftragte fuer gesundes Raumklima.
Daneben sitzt sie im Personalrat, ist gewaehlte Senatsvertreterin des
nicht-wissenschaftlichen Personals, beratendes Mitglied des Mensabeirats im
Studentenwerk, sowie Vorsitzende der Privatinitiative 'Freie Waffenscheine
fuer Sekretaerinnen'.
Ich tue so, als ob ich nur das edle, rot-weisse Label auf der Flasche
bewundern wuerde, und frage ablenkend nach der Post. Aber Frau Bezelmann hat
Blut geleckt und laesst sich nicht so leicht wieder abschuetteln.
"Sie haben RSI, Repetitive Stress Injury! Ich werde sofort einen Termin
beim Vertrauensarzt fuer Sie ausmachen!" sagt sie streng, als sie die
dunkelroten, pulsierenden Streifen zu Gesicht bekommt.
Alle Proteste und Drohungen meinerseits fruchten nichts. Nicht mal als ich,
um zu demonstrieren, wie beweglich der Arm doch sei, die Aldi-Tuete mit der
Hauspost mit elegantem Schwung aus dem Fenster schleudere.
Fuenf Minuten spaeter schickt sie mir eine Mail mit den Termin: noch heute
nachmittag um zwei solle ich mich in der Praxis 'Dr. Fraktura und Partner'
einfinden. Weigerung zwecklos.
Puenktlich um 10 vor 2 betrete ich die modernen Praxisraeume von Dr. Fraktura & Co in der Innenstadt und werde sofort von einer sexy aufgemachten aber schnippischen Praxisgehilfin zu den anderen Opfern ins Wartezimmer geschickt. Das Wartezimmer hat die Einrichtung und den Charme einer mittelalterlichen Nuernberger Folterkammer, und die restlichen Anwesenden schauen alle so aus, als ob sie auch irgendwo aus der Zeit stammten.
Bevor ich mich noch richtig der hohen intellektuellen Herausforderung von
'Reader's Digest Band 7896' hingeben kann, steht die heisse Praxisbraut
schon wieder in der Tuere und schleppt mich ins Labor ab. Von hinten sieht
man, dass sie keinen BH unter ihrem unschuldig weissen Praxiskittel traegt.
Ich sitze kaum wieder, da naehert sie sich schon mit einer lebensgefaehrlich
grossen Spritze und erklaert so vertrauenserweckend wie Lucrezia Borgia, dass
sie mir jetzt 'ein ganz kleines bisschen Blut' abnehmen werde. Ich will ihr
noch sagen, dass ich aber kein Blut sehen koenne, da hat sie mir die Kanuele
schon bis zum Anschlag in eine fette Vene am Unterarm gerammt! Direkt in
einen der dunkelroten Streifen hinein! Ich schnappe unauffaellig nach Luft
und versuche trotz meines gruenen Gesicht maennlich gelassen zu wirken.
Gleichzeitig tropft mir der Schweiss aus den Augenbrauen und das Blut
spritzt aus der Kanuele in den durchsichtigen Glaskolben. Die Praxisbraut
beugt sich noch etwas mehr ueber mich, als versuche sie, mich durch einen
bessere Aussicht auf ihre wohlgerundete Huegellandschaft zu beruhigen, aber
das hilft jetzt auch nix mehr.
"Das hat uns doch nicht weh getan?" erkundigt sie sich scheinheilig und
guckt mich forschend mit ihren gruenen Augen an.
Ich sage muehsam, davon koenne keine Rede sein, und versuche krampfhaft an
etwas Angenehmes, zum Beispiel meine neue SGI im Buero, zu denken. Sie
laechelt wieder sardonisch und zerrt etwas energischer am Kolben der
riesigen Spritze, um noch den letzten Tropfen Blut aus mir herauszuholen.
Ich schaue diskret, ob die Lady vielleicht vergroesserte Eckzaehne hat, als es
mir ploetzlich so klar wird wie ein 21-Zoll-Schirm nach dem
Entmagnetisieren: Vor mir steht niemand anderes als 'The Bastard Nurse from
Hell' (BNfH)! Leibhaftig und zum Schlimmsten bereit!
Mit einem Ruck, der jedem siegreichen Saebelfechter im Dreissigjaehrigen
Krieg gut angestanden haette, rupft sie die Kanuele aus meiner geschaendeten
Vene. Waehrend ich meine sprudelnde Wunde mit einen Tupfer zuhalten darf
("Druecken Sie mal kurz hiermit drauf!") verfluche ich in Gedanken Frau
Bezelmann ein paar Tausend Male.
"Nur keine Muedigkeit vorschuetzen", scheucht mich die BNfH gleich wieder
auf, "jetzt zum Dauer-EKG!"
Durch den weissen Praxiskittel kann ich nicht erkennen, ob sie eine
Bastard-Erkennungsmarke um den Hals traegt ; ich habe dummerweise meine aus
Sicherheitsgruenden zu Hause gelassen. Bevor ich aber noch behutsam das
Thema darauf bringen kann, hat sie mich schon in einen Raum gelotst, in dem
mehrere moderne Versionen der Folter-Geraete aus SadoVixensIII++
herumlungern, und verlangt, dass ich mich 'frei mache' und auf einer Art
Kreuzung von Fahrrad und Computer Platz nehme. Ich gehorche ausnahmsweise
schweigend, und sie verkabelt mich mit geuebten Griffen, wobei sie jede
einzelne pieksende Elektrode zur Sicherheit nochmal nachzurrt und dabei
sardonisch laechelt, wenn ich scharf die Luft zwischen den Zaehnen einziehe.
Sie erklaert, was waehrend der naechsten halben Stunde von mir erwartet wird,
stellt das Ding auf maximalen Widerstand ein und laesst mich auf dem
laecherlichen Strampelapparat allein.
Ich trete gehorsam fuer eineinhalb Minuten, dann wird es mir zu anstrengend.
Ich gehe in das Herz-Monitor-Kontroll-Programm des angeschlossenen PCs,
kopiere meine bisherige EKG-Aufzeichung zwanzigmal und haenge alle Kopien
hintereinander.
Da ich ja jetzt viel Zeit uebrig habe, beschaeftige ich mich ein wenig mit
dem PC in der Ecke. Schon bald wird klar, dass es sich hier um eine dieser
Praxen handelt, wo ein geschickter Vertreter fuer Netzware und
Abrechnungssoftware bis zum Geht-Nicht-Mehr zugeschlagen hat. Alle
Behandlungsraeume sind vernetzt, alle Patientendaten von jedem Terminal
abrufbar (natuerlich ohne Passwort), sogar die meisten Labor-Geraete sind
online angeschlossen. In den Personal-Dateien finde ich sogar ein paar GIFs
der BNfH - alle mit dem gleichen sardonischen Laecheln, mit dem sie
wahrscheinlich immer ihre Kanuelen und Katheder einfuehrt.
Nur so ganz automatisch verschiebe ich saemtliche eingetragenen
Patiententermine naechste Woche um zweiundvierzig Stunden nach vorne,
schreibe jeweils fuer die Patienten Karl Wocsefski, Anton Baerlamm und
Gerhard Klober eine Ueberweisung an den Gynaekologen aus und aendere das
Ueberstundenkonto der BNfH von 833 auf 38.
Im Ultraschall-Geraet fummele ich ein wenig am Bildspeicher und der
Verarbeitungssoftware herum, und im Roentgen erhoehe ich die Anodenspannung
der Gamma-Kanone auf den Wert 'STERILIZE'.
Ich ueberlege gerade, ob ich noch einen Macro-Virus im kassenaerztlichen
Abrechnungssystem einpflanzen soll, der in saemtlichen Rechnungen vor dem
Ausdrucken automatisch den Endbetrag um eine Stelle nach unten korrigiert,
als ploetzlich eines der angeschlossenen Geraete im Netz aktiv wird.
Interessiert beobachte ich, wie ein vollautomatisches Analyse-Geraet meine
Blutwerte ins Netz einspeist...
Kurz darauf kommt die BNfH und befreit mich von den Kabeln. Nach einigen
weiteren mehr oder weniger unfreiwilligen Spendenaktionen, die ich lieber
nicht so genau schildern moechte, bekomme ich endlich auch mal einen Doktor
zu Gesicht. Er guckt sich gerade kurzsichtig die Langzeit-EKG-Streifen an,
als ich hereinkomme.
"Sehr schoen", murmelt er und benutzt seine Brille als Lupe, "ganz
erstaunlich. Sie muessen ein sorgfaeltig durchtrainierter Sportler sein, wenn
ihr Herz so regelmaessig schlaegt. Na, schauen wir mal..."
Ich muss mich auf eine harte Liege flachlegen und er rollt das
Ultraschall-Geraet so heran, dass ich auch was sehen kann. Zunaechst passiert
nichts Aussergewoehnliches, ausser dass der Doc leise lateinische Vokabeln
brabbelt, waehrend er sich durch die Fettschicht zu meiner Leber
vorarbeitet. Mitten in einem sehr schoen gelungenen Scan durch meine
Gallenblase erscheint ploetzlich kurz das sardonische Laecheln der BNfH auf
dem Display, halb verdeckt von den maechtigen Leberlappen, und verschwindet
wieder. Der Doc laesst vor Schreck den teueren Ultraschallkopf auf den Boden
fallen und schnappt nach Luft.
"Haben Sie das auch gesehen?!"
Ich beteuere, dass mir nichts aufgefallen sei, und frage sehr besorgt, was
er denn da Schreckliches gesehen habe.
"Nichts, nichts. Kein Grund zur Beunruhigung", sagt der Doc wenig
ueberzeugend und setzt den Scanner wieder in Betrieb.
Das naechste Mal erscheint das Konterfei der BNfH blitzartig in der linken
Herzkammer. Wie romantisch, denke ich und versichere auf erneute Anfrage
laut, dass ich absolut kein Gesicht oder so was gesehen habe; und was denn
um Gottes Willen da in mir drin sei.
Der Doc wischt sich den Schweiss mit einem Tupfer von der Stirne und merkt
zu spaet, dass der Tupfer voll mit Gleitcreme war. Dann meint er, wir sollten
die Untersuchung lieber ein andermal zu Ende machen.
"Doktor", sage ich mit zitternder Stimme, "sagen Sie mir die Wahrheit!"
Der Doc beteuert, dass sich alles aufklaeren wuerde, und fuehlt heimlich seinen
eigenen Puls.
"Wenn ein Arzt sagt, es werde sich alles aufklaeren", sage ich mit dumpfer
Stimme, "heisst das, ich stehe mit einem Bein im Grab, nicht wahr?"
"Nein, nein", versichert mir der Doktor und lockert mit dem rechten Finger
seinen Kragen, "glauben Sie mir: ich bin es eher, der sich Sorgen machen
sollte."
Ich ziehe mich gehorsam wieder an, und der Doc hat sich soweit gefangen,
dass er einen Blick auf die Laborwerte werfen kann. Ploetzlich stutzt er:
"Wussten Sie, dass Sie erhoehte Kolesterinwerte haben?"
Ich schuettele den Kopf, raeume aber ein, dass ich heute zum Fruehstueck ein
paar Eier zu mir genommen habe.
Der Doc starrt fassungslos auf den Computerausdruck:
"Ja, aber.... aber das sind ja Werte... das sind etwa fuenfhundertmal mehr
als normal. Mit solchen Werten kann kein Mensch ueberleben..."
Ich denke kurz nach und frage dann, ob es vielleicht an der Menge der
konsumierten Eier liegen koenne.
Der Doc schnaubt veraechtlich:
"Na, wieviele Eier waren es denn?"
"456" sage ich, "so ungefaehr..."
"Was??"
Ich erlaeutere dem Doc, dass ich von Kaviar-Eiern spreche. Er hoert mir gar
nicht zu, weil er inzwischen den 42%igen Alkohol-Anteil im Urin gefunden
hat.
"Ausserdem haben Sie keine roten Blutkoerperchen", faehrt er fassungslos fort.
"Und alles andere stimmt auch nicht..."
"Tja, nach gruenen haben Sie wohl nicht gesucht", sage ich.
"Wieso gruenen?"
Ich seufze, wie wenn ich resignieren wuerde, und beuge mich vertraulich vor:
"Darf ich Sie an Ihre aerztliche Schweigepflicht erinnern?" fluestere ich und
der Doc nickt stumm und beugt sich ebenfalls vor.
"Ich habe keine roten Blutkoerperchen, weil ich vom Vulkan stamme. Die
dortigen Bewohner haben gruenes Blut..."
"Vom Vulkan", sagt er sanft, fast selig, und laechelt beruhigend, wie mit
einem offensichtlichen Irren.
"Ja, das erklaert alles, nicht?" sage ich
"Natuerlich, natuerlich", beeilt er sich mir zuzustimmen. Jetzt ist er wieder
ganz in gewohnten Fahrwassern. Zumindest glaubt er das. Dann faellt sein
Blick zufaellig auf den Labor-Bericht von ihm auf dem Schreibtisch und sein
Laecheln gefriert zu einer Grimasse.
"Aber... aber...", stottert er.
"Ja", gebe ich zu, "das schaut seltsam aus, aber an sich sind das ganz
normale Werte fuer einen Vulkanier. Und was Sie sich vorhin mit dem
Ultraschall angeschaut haben, war uebrigens nicht meine Leber sondern mein
Kurzzeitgedaechtnis. Die Vulkanier tragen einen grossen Teil ihres... aeh...
Gehirns im Abdomen. Da muessen sie beim Scannen ein paar gespeicherte Bilder
durch Interferenz erwischt haben...
"Verstehe!" japste der Doc, waehrend ihm der Schweiss in Baechen
herunterlaeuft.
"Sie werden begreifen, dass es meine Mission empfindlich stoeren wuerde, wenn
ich jetzt wegen eines dummen Zufalls enttarnt wuerde. Ich schlage vor, dass
wir meinen Besuch bei Ihnen ganz einfach vergessen. Und Sie schreiben
irgendetwas Unverbindlich-Harmloses in Ihren Untersuchungsbericht, nicht
wahr?"
Der Doc ist mit allem einverstanden, wenn ich nur jetzt unauffaellig gehen
und niemals, das muesse ich ihm versprechen, niemals wieder in die Praxis
kommen wuerde. Ich verspreche es grossherzig und verabschiede mich mit
'Friede und langes Leben!'.
"Und?" will Frau Bezelmann spaeter gespannt wissen. "Was sagt der Doktor zu
den komischen Streifen auf Ihrem Unterarm?"
"Nichts", sage ich wahrheitsgemaess. "Und alle meine Werte sind absolut top."
Frau Bezelmann schnaubt veraechtlich.
"Ich wette", sagt sie streng, "Sie haben wieder irgend so eine naive
Arzthelferin so lange eingewickelt, bis sie alle Ergebnisse zu Ihren
Gunsten gefaelscht hat."
Copyright Florian Schiel 1998